Der Abenteuerspaziergang
Angefangen hat alles ganz gemächlich. Nachdem wir bei Regen im Dorf angekommen waren und auch gleich von einem Kasachen angesprochen wurden, der uns ein Zimmer anbot, hatten wir uns recht schnell eingerichtet und wollten mal einen ersten Erkundungsspaziergang in Richtung See machen. Dementsprechend waren wir zwar mit halbwegs regenfester Kleidung, aber ansonsten mit leichtem Gepäck ausgerüstet. Am See angekommen gelangten wir auf einen gut ausgebauten Weg für Wanderer und Touristen, der zu ein paar Aussichtspunkten und ein paar alten Felszeichnungen führte. Weil wir sonst keine großen Pläne hatten, sind wir diesem Weg einfach gefolgt. Und als wir am Ende angekommen waren, sind wir aus Neugier und im Glauben, dass bestimmt noch irgendetwas kommen müsse den sich direkt anschließenden Trampelpfad weitergegangen. Dieser verlor sich allerdings immer mehr bzw. ging mit der Zeit fließend in Wildwechsel über. Da wir noch Zeit hatten und immer noch der Überzeugung waren, bald auf eine Siedlung oder wenigstens eine Anlegestelle für die Boote, die ständig den See vom erschlossenen Südufer aus nach Norden und zurück durchkreuzten, stoßen müssten, folgten wir einfach den Wildwechseln bzw. schlugen uns durchs Dickicht bis wir wieder auf einen gelangten. Der Weg wurde immer unwegsamer und unsere Füße wurden immer feuchter, weil wir auch vielfach durch Wiesen kamen, die noch vom Regen nass waren. Und da obwohl ich meine Bergstiefel anhatte, mit denen man normalerweise auch 15 cm im Wasser stehen kann (das Wasser gelangte allerdings von oben rein und irgendwann sind auch die besten Stiefel durchweicht ;)). Tapfer sind wir also durch den Wald gestapft auf der Suche nach unserer Anlegestelle. Vom Ufer aus konnten wir sehen, wo sich diese befinden musste - allerdings kamen wir aufgrund Gestrüpp, umgefallenen Bäumen und unüberwindbaren Felsen immer langsamer voran. Ein paar Mal überlegten wir uns, ob es nicht doch besser wäre, umzudrehen, beschlossen dann aber, dass der Weg nach Vorne schneller sein müsste als der nach Hinten. Danach könnte man dann mit dem Boot zurückfahren.
Es war etwa halb neun abends als wir an einen Bergbach kamen, der nicht ohne Weiteres überwuerbar war. Zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits sechseinhalb Stunden unterwegs. Aufgrund der in den letzten zwei Stunden zurückgelegten und der bis zum vermeintlichen Anlegeplatz (die Boote fuhren mittlerweile ohnehin nicht mehr) noch zurückzulegenden Strecke entschieden wir uns nach einiger Überlegung dazu, umzukehren, um in der Nacht sicher ein Dach über dem Kopf zu haben. Weil Xinjiang so weit westlich liegt, aber trotzdem die Pekinger Zeit gilt, war es auch noch eine ganze Zeit hell, so dass wir hofften, in der Helligkeit noch möglichst weit zu kommen.
Das gelang uns anfangs auch recht gut und wir kamen zügig voran. Währenddessen wurde es immer dunkler. Mal abgesehen von der Vorstellung, dass wir noch einige Stunden bis “nach Hause” hatten, war die Stimmung in der Dämmerung unglaublich schön. Wir waren ja weit und breit die Einzigen außer den Vögeln, die ein wunderbares Konzert sangen und wahrscheinlich ein paar anderen Waldbewohnern, die wir allerdings nicht zu gesicht bekamen.
Dann setzte das Gewitter ein. Die dunklen Wolken hatten es eigentlich schon angekündigt, aber wir hatten noch gehofft, verschont zu bleiben. Pustekuchen. Weil meine Regenjacke (chinesisches Fake) schon auf dem Hinweg vollkommen durchnässt wurde, wanderte ich also mit offenem Schirm durchs Dickicht. Mittlerweile war das Gewitter auch gar nicht mehr weit entfernt. Man konnte zwischen Blitz und Donner gerade noch bis drei zählen. Und zu allem Überfluss begann dann auch noch der Hagelschauer. Die Körner waren immerhin teilweise erbsengroß. Plötzlich war’s ziemlich kalt. Das passiert einem eben, wenn sich unvorbereitet mit der Natur anlegt ;). Aber zum Glück ging das Gewitter dann vorüber und auch der Regen, der den Hagel wieder abgelöst hatte, wurde immer schwächer und hörte irgendwann ganz auf.
Wie weit wir waren wussten wir natürlich genausowenig, wie wir wussten, wie lange wir noch zu laufen hatten. Zu unserem großen Glück hatte ich eine Taschenlampe dabei. Diese hatte ich eigentlich nur deshalb eingesteckt, weil wir auf unserer Wanderung in den Bergen über Urumchi an einem unterirdischen Bunker vorbeigekommen sind, in den man zwar reingehen konnte, in dem wir allerdings aus Mangel an Licht nur vielleicht zehn Meter gehen konnten. So etwas sollte mir nicht mehr passieren ;). Ohne diese Taschenlampe hätten wir vielleicht biwakieren müssen, weil es erstens dunkel war und zweitens etwas vielfach rutschig und steil. Ohne Sicht auf den Weg insgesamt also etwas gefährlich. Unterwegs kamen wir an einem Tierkadaver vorbei, der mal ein Reh gewesen sein musste. Allerdings waren fast nur noch die Knochen und ein paar Fellfetzen übrig. In der Gegend soll es Wölfe geben, wie uns am Tag zuvor unsere Gastgeber erzählten. Ansonsten passierte nichts besonders Aufregendes. Wir stapften einfach unermüdlich weiter und hofften, irgendwann wieder auf den gut ausgebauten Weg zu stoßen. Bis wir plötzlich - nicht weit von uns entfernt - ein Hecheln und Bellen hörten. Natürlich war uns sofort wieder die Geschichte vom Wolf in Erinnerung. Weil ich auch nicht wusste, was zu tun war, habe ich erstmal mein Messer rausgenommen und meinen Schirm ausgezogen und vorne zusammengebunden, so dass man ihn notfalls als Schlagwerkzeug benutzen konnte. Wie angewurzelt blieben wir stehen und horchten, ob sich das Geräusch bewegte. In der sonstigen Stille des Waldes kam es uns fast ohrenbetäubend vor. Der Wolf bewegte sich zwar etwas, kam aber nicht näher. Wir gingen also - nun mit ausgeschalteter Taschenlampe - langsam weiter. Einige Zeit verfolgte uns das Hecheln, Knurren und Bellen noch, aber wir entfernten uns langsam von ihm.
Mittlerweile weiß ich, dass Wölfe nur sehr selten richtig bellen und auch weil uns der “Wolf” nicht verfolgte, war es wohl doch nur ein Hund, der irgendwo von jemandem als Wache gehalten wurde. In dem Moment, als wir das erste Mal das Geräusch hörten war es uns allerdings trotzdem sehr unheimlich. Zumal wir ja felsenfest davon überzeugt waren, dass wir in einer Gegend waren, in der keine Menschen wohnten. Nach diesem Höhepunkt überstanden wir dann auch das nächste Wildtier unbeschadet, von dem wir nur ein Rascheln im Gebüsch hörten. Vermutlich ein Reh oder ein kleineres Tier. Irgendwann nach einer gefühlten Ewigkeit sind wir dann doch noch auf dem befestigten Weg angekommen und hatten dann zwar noch eine ganz schöne Wegstrecke vor uns, waren dafür aber sicher, richtig zu sein und auf jeden Fall anzukommen.
Im Dorf angekommen wurden wir zunächst von vielen Hunden angebellt, die ein Problem mit meiner Taschenlampe hatten. Wir freuten uns schon auf unser warmes Bett als wir feststellen mussten, dass wir vor dem falschen Haus standen. Und mit der Zeit stellten sich alle Häuser als die falschen heraus. In der Dunkelheit sah man ohnehin schon nicht besonders viel von den einzelnen Häusern, aber nach einer guten Stunde hatten wir dann alle Häuser des Dorfes als unsere Herberge ausgeschlossen. Zum Schluss blieb uns nichts anderes übrig als an einem der wenigen zu klopfen, aus denen noch Lichtschein hervorkam und mal zu fragen, ob man uns weiterhelfen könne. Natürlich wussten sie auch nicht, wo wir wohnten, und die einzige Visitenkarte unserer Vermieter war in der Nässe des Ausflugs ertrunken und unlesbar. Mit inzwischen sehr kalten Füßen und vollkommen durchnässt hatten standen wir also vor dem nächsten Problem. Die Familie, bei der wir um Rat gefragt hatten, schlugen dann als Lösung vor, dass wir zunächst mal in einer ihrer Zimmer (in diesem Dorf vermietet jeder, der irgendwie noch was frei hat, ein Zimmer) übernachten und die Suche am nächsten Tag fortsetzen sollten. Das haben wir dann auch gemacht und - erschöpft wie wir waren - elf Stunden geschlafen. Am nächsten Morgen (eigentlich war’s ja schon fast Mittag) fanden wir dann - nach einer langen Suche - unsere Hütte: wir hatten zwar alle Hütten ausgiebig angesehen und ausgeschlossen, aber nicht bedacht, dass das Dorf hinter einem kleinen Hügel noch weiterging. Wir waren quasi in der falschen Hälfte des Dorfes gelandet und hatten eben nur die Hälfte des Dorfes gesehen ;).
Ende gut, alles gut! Genauso wie wir waren auch unsere Vermieter, die wohl am Vorabend schon nach uns gefahndet hatten, sehr erleichtert. Den Nachmittag haben wir dann etwas ruhiger angegangen und auch ein wenig gegessen (auf der “Wanderung” bestand unser einziger Proviant aus etwas Wasser und ein paar Rosinen, die ich zufällig noch in der Jackentasche hatte - und das war ein Glück wie die Taschenlampe, weil wir sonst durch die 12 Stunden fast pausenloser Wanderung bestimmt unterzuckert gewesen und wären und es vielleicht nichtmal bis ins Dorf geschafft hätten). Im Nachhinein betrachtet haben wir - auch wenn’s natürlich ein wenig leichtsinnig war - alles gesund überstanden und sind nun vor allem eines: um ein wirkliches Abenteuer reicher ;) …